Abtreibung - Schwangerschaftsabbruch: Für das Recht auf einen freien Entscheid


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14. November 2012:
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Letzte Aktualisierung:

Schwangerschaftsabbruch – Ethische Grundfragen:

Können ChristInnen Ja zur Fristenregelung sagen?

Vortrag Prof. Dr. Stephan H. Pfürtner
Theologe (röm. kath.), Marburg
Donnerstag, 31. Januar 2002, Hotel Alfa, Bern

Anschliessend Podiumsdiskussion mit:
Dr. theol. Beatrice Acklin-Zimmermann
, kath. Theologin, Lehrbeauftragte Universität Freiburg
Ursula Angst-Vonwiller,
Co-Präsidentin Evang. Frauenbund der Schweiz
Dr. med. Judit L. Pòk Lundquist
, Ärztliche Leiterin Frauenpoliklinik Unispital Zürich, Mitglied Nationale Ethikkommission
Pfr. Markus Sahli
, Leiter Innenbeziehungen, Schweiz. Evangelischer Kirchenbund

Gesprächsleitung: Roland Jeanneret, Journalist

Veranstalterinnen: Evangelischer Frauenbund der Schweiz, Schweiz. Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs


Prof. Pfürtner leitete seinen Vortrag mit der Feststellung ein, in der Mitte des Problemfeldes stünden Menschen, vor allem Frauen in ihrer existenziellen Betroffenheit und stehe werdendes menschliches Leben. Einseitigkeit oder simplifizierende Vereinfachung dürfe es daher nicht geben.

Das Mit- und Ineinander von schwangerer Frau und werdendem Kind müsse im Blick behalten werden. In bestimmten Situationen könne jedoch ein Auseinander zwischen den beiden entstehen. Im daraus erwachsenden Konflikt dürfe die ausserordentliche Vielfalt der Gesichtspunkte nicht vernachlässigt werden.

Wider alle "schrecklichen Vereinfacher"

Als "schreckliche Vereinfacher" bezeichnete Pfürtner diejenigen, die unter dem Slogan antraten: "Mein Bauch gehört mir". Nicht minder aber jene, die Abtreibende als "Mörder" oder "Mörderinnen" diskriminierten. Eine folgenschwere Vereinfachung im Denken sowie in der Sprache hat, so Pfürnter, auch das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 28.Mai 1993 vollzogen. Es hatte sich den Satz bestimmter Embryologen "Mensch von Anfang an" zu eigen gemacht und gefolgert, dass auch dem Embryo rechtliche Schutzwürdigkeit eines Menschen zukomme. Das BVerfG hat damit jeden Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich zur Tötung eines Menschen erklärt, – gleichzeitig aber Straffreiheit unter bestimmten Bedingungen für rechtmässig befunden. Die Ambivalenz der Sprache – "Unrecht gegen das Leben" einerseits, "strafrechtlich in bestimmten Fällen legal" anderseits – weise auf die Doppeldeutigkeit des Urteils und eine fragwürdige Akrobatik des Rechtsdenkens hin, kritisierte Pfürtner.

"Sollte durch die Sprache des KarIsruher Gerichts und aller anderen Autoritäten, die ähnlich sprechen, den Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden, zunächst ein schlechtes Gewissen gemacht werden?", fragte der Referent.

Würde und Entscheidungshoheit der Frau

Das Leben der Frau in ihrer Würde, ihrer Gesundheit und ihrer Lebenserfüllung zusammen mit dem werdenden Leben in ihr muss Vorrang bei allen Abwägungen haben, befand Pfürtner. Angesichts der Verflechtung der beiden in- und miteinander könne das werdende Leben nicht ohne oder gar gegen die schwangere Frau gerettet werden. Wer also den Schutz des werdenden Lebens wirksam fördern wolle, müsse soziale und gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die den Frauen die Entscheidung erleichtern, Kinder anzunehmen, sie auszutragen und grosszuziehen. Ein grosses Gewicht mass Pfürtner Bemühungen im Bereich der Kindererziehung und der Familienförderung als Aufgaben der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinwesen bei. Dem Rechts- oder gar Strafrechtssystem komme vergleichsweise eine geringe Effizienz zu.

Die Sozialforschung habe längst gezeigt, dass Frauen sich keineswegs leichtfertig gegen das Leben entscheiden, das in ihnen heranwächst. "Ich plädiere somit nicht zuletzt für das werdende Kind und sein Wohl, wenn ich der Frau, ihrer Würde und ihrer Entscheidungshoheit im Konflikt den Primat zuspreche". Die Frau und nicht irgendeine staatliche oder kirchliche Instanz sei erste und oberste Entscheidungsträgerin in diesem Gewissenskonflikt. Der Respekt vor der Frau in ihrer Würde und ihrer personalen Verantwortungszuständigkeit müsse in der Gesetzgebung zum Tragen kommen.

Bei bestimmten Gruppen oder Institutionsvertretern habe ein Gesetz oberste Priorität. Diese Position bezeichnete Pfürtner als Moral- oder Rechtsfundamentalismus. Sie spreche der Einhaltung der Werteordnung und der aus ihr resultierenden Gesetze den obersten Rang zu, auch wenn die konkreten Menschen, um die es letztlich gehen sollte, dabei leiden. "Fiat justitia – pereat mundus".

Auch in unserer westeuropäischen Kultur war die Frau über Jahrtausende hinweg nicht Entscheidungssubjekt, sondern -objekt in Fragen des öffentlichen Lebens. Unsere Zivilisation habe sich von diesem männer-vorrechtlich geprägten Muster zwar erheblich fortentwickelt. Aber in Sachen Schwangerschaftsabbruch werde die Frau immer noch nicht als vollwertiges Rechtssubjekt, sondern als Objekt behandelt. Es werde von öffentlicher Seite über sie verfügt.

Bei der jetzt diskutierten Gesetzgebung geht es laut Pfürtner darum, die Frau als Entscheidungsträgerin und Rechtssubjekt in dem ihr wesentlich zugehörigen Lebensbereich einzusetzen, nämlich in dem der Mutterschaft. Sie habe auch die Entscheidungsfolgen zu tragen. Staat und Kirchen hätten der Frau gegenüber eine Bringschuld einzulösen. Nämlich: Jene offenen oder verborgenen Unterdrückungen aufzuheben, die den Frauen auch in unserem Kulturraum im Bereich des familialen Lebens durch Jahrtausende hindurch auferlegt wurden.

"Mensch von Anfang an"?

In der öffentlichen Sprache habe sich die Redeweise breit gemacht, den Embryo selbst in seinem Erststadium schon als Kind, als Menschen zu bezeichnen, kritisierte Pfürtner. Es sei nichts Befremdliches, wenn eine Frau, die mit Spannung ihre Schwangerschaft erwartet und diese wahrnimmt, von ihrem Kind spricht, mit dem sie von nun an in lebendigem Austausch lebt. Fragwürdig sei jedoch, wenn öffentlich eine bestimmte Sprachpolitik gezielt betrieben werde. Mit der Macht der Sprache werde politische Macht ausgeübt.

Die Biologie habe bewiesen, dass es nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle keine Einschnitte mehr im Reifungsprozess gibt, die die individuelle biologische Prägung dieses Lebewesens grundlegend verändern. Von diesem Augenblick an handelt es sich um dieses konkrete, werdende Leben in seiner individuellen genetischen Ausstattung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles, was darüber hinaus gefolgert wird, sei Deutung.

Wer dahingehend deute, dass hier noch kein Mensch vorliegt, treffe die Tatsachengrundlage insofern, dass noch kein bewusstes Subjekt vorliegt. Er gehe aber an der Tatsache vorbei, dass es sich um werdendes menschliches Leben handelt. Wer anderseits die These "Mensch von Anfang an" vertrete, vollziehe damit ebenso eine Deutung. Pfürtner nennt diese Position einen embryologischen Fundamentalismus. Als abwegig bezeichnet er, mit Bezug auf den Embryo die grossen Worte Menschenwürde und Menschenrechte anzuwenden. Diese Begriffe würden dadurch geradezu bedeutungsleer und banalisiert.

Nichts zeige die Schwangerschaft deutlicher, als dass wir dem Gesetz des Werdens unterliegen. Schwangerschaft sei biologische Menschwerdung, so Pfürtner. "Ebenso wie die Eichel noch keine ausgewachsene Eiche ist, ebenso wenig ist der menschliche Embryo schon ein Mensch, sondern er wird ein Mensch".

Niemand wisse mit naturwissenschaftlich exakter Sicherheit, wann im Prozessgeschehen der Schwangerschaft der Mensch – als Person – wirklich "da ist". Das hänge wesentlich davon ab, was unter "Mensch" verstanden wird. "Sollte das Kriterium einfach im Zustandekommen des genetischen Programms bestehen, wie es die fundamentalistischen Embryologen geltend machen? Oder gehört zur Menschwerdung unendlich mehr?", fragte Pfürtner.

Ebensowenig wie eine naturwissenschaftliche gebe es eine Glaubensgewissheit, wann und wie wir zur unverwechselbaren Person werden, fuhr Pfürtner fort. Die Menschwerdung des konkreten Menschen sei letztlich in Gottes Schöpfungsgeheimnis gegeben. Sie sollte auch im Geheimnis Gottes bleiben.

Das schliesse nicht aus, dass eine Kirche nach derartigen Überzeugungen sucht und sie dann öffentlich vertritt. Die jeweilige Kirche sollte jedoch deutlich sagen, dass sie hierzu keine Offenbarung empfangen hat. Eine Kirche, die ihrerseits die Hoheit des Einzelgewissens bejaht, müsse dann auch andere wertende Überzeugungen zulassen. Gerade aus theologischer Verantwortung sollte jede Kirche auf jeden absoluten Wahrheitsanspruch verzichten.

Pfürtner wies darauf hin, dass die katholische Kirche mit der heute geradezu offiziell gewordenen Position "Mensch von Anfang an" eine bedeutsame, früher vertretene Lehrauffassung verlässt. Kein geringerer als Thomas von Aquin (1225-1274) vertrat die These, dass der Schöpfer erst nach einer gewissen Zeit (zwischen 40 und 80 Tagen) die Geistseele dem Foetus einstifte. Er und mit ihm eine jahrhundertealte Lehrtradition hat das Heranreifen des Embryos, also den Zeitfaktor, in der Entwicklung der Schwangerschaft für grundlegend wichtig gehalten.

Die Theologische Kommission der Schweizer Bischofskonferenz nenne zwar in ihren "Neun Leitsätzen zum Schwangerschaftsabbruch" den grossen Theologen des Mittelalters, weiche jedoch von dessen grundlegender Deutung der Menschwerdung als Reifungsprozess ab.

Abtreibung und Strafrecht

Natürlich könne der Staat nicht völlig auf den Einsatz des Strafrechts verzichten. Im Bereich der diskutierten Fristen sollte der Gesetzgeber jedoch den konfliktbelasteten Frauen gegenüber mit hoher Sensibilität vorgehen und auf die Strafandrohung verzichten, plädierte Pfürtner.

Er bezeichnete es als Defizit, dass die Bischofskonferenz in ihrer Stellungnahme die kirchliche Tradition heranziehe, ohne sich von deren frauenfeindlichen Theorienbildung und Strafpraxis zu distanzieren. Sie hätte im Geiste des grossen Konzilspapstes, Johannes XXIII., eine Sinnesänderung in der eigenen Kirche betreiben können. Dieser Papst habe nämlich vertreten, dass die Kirche den Menschen in Bedrängnis nicht mit dem Instrument der Strafe, sondern durch die Gesinnung der Solidarität begegnen sollte.

Alle Erfahrungen im internationalen Vergleich hätten im übrigen gezeigt, dass das Strafrecht es nicht geschafft habe, das Übel der Abtreibung spürbar zu mindern. Wenn nun ausgerechnet die Kirche auf staatlichen oder kirchlichen Strafen bestehe, laufe sie Gefahr, den von ihr verkündeten Gott als eine Art obersten Polizisten hinzustellen. Dabei sei ihr aufgetragen, den Menschen den "Vater der Erbarmungen und den Gott allen Trostes" (2Kor 1) zu verkünden.

Pflichtberatung oder Beratungsangebot?

Wer Schwangerschaft als Prozess der Menschwerdung verstehe, müsse embryonalem Leben und der werdenden Mutter mit hoher Verantwortung begegnen. Dazu gehöre, für Frauen in solchen Konfliktlagen ein Beratungsangebot bereitzustellen. Als unangemessen bezeichnete er, die Frau gesetzlich auf eine Pflichtberatung festzulegen. Damit werde der Frau unterstellt, sie könne nicht verantwortlich mit dem in ihr werdenden Leben umgehen. Mit der Pflichtberatung falle man in das Modell zurück, wonach letztlich von Ausseninstanzen über die Frau befunden und entschieden wurde.

Die Würde der Frau verlange, dass nicht über sie als Objekt verfügt wird, sondern dass sie als entscheidungsfähiges Subjekt und Verantwortungsträgerin anerkannt wird. Respekt vor der Würde der Frau und ihrer Entscheidungsautonomie sei ein hohes Gebot christlicher Sozialethik, wie auch der katholischen Sozialtheologie.

Wer sich als Katholikin oder Katholik für die Würde der Frau einsetze, dürfe sich bewusst sein, dass er dem Auftrag des letzten Reformkonzils folge – auch wenn restaurative Tendenzen in der römisch-katholischen Kirche derzeit dagegen stünden.


PODIUMSGESPRÄCH

Für einen verantwortlichen Gewissensentscheid

Im anschliessenden Podiumsgespräch unter Leitung von Radio-Journalist Roland Jeanneret diskutierten die katholische Theologin Dr. Beatrice Acklin-Zimmermann, Lehrbeauftragte an der Universität Freiburg; Ursula Angst-Vonwiller, Co-Präsidentin des EFS; Dr. med. Judit L. Pòk vom Universitätsspital Zürich und Mitglied der nationalen Ethikkommission sowie Pfr. Markus Sahli vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund.

Alle PodiumsteilnehmerInnen stellten den Respekt vor der moralischen Autonomie und die Eigenverantwortung der Frau in den Vordergrund. Für Frau Dr. Acklin ist die Fristenregelung die am wenigsten unbefriedigende gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Der Frau werde ein eigenes Entscheidungsvermögen zugetraut. Ihre konkrete dramatische Situation, ihre Nöte würden ernst genommen. "Frauen wissen selbst am besten, was sie können und was drin liegt", meinte Frau Angst-Vonwiller. "Nur die Frau kann beurteilen, was die Schwangerschaft für sie bedeutet", ergänzte Frau Dr. Pòk. Dem SEK gehe es darum, die Frau nicht länger zu kriminalisieren, wenn sie nicht ja sagen könne zur Schwangerschaft, erklärte Pfr. Sahli. Es dürfe nicht sein, dass Drittpersonen über das Schicksal der Frau entscheiden. Mit Blick auf die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik wies er darauf hin, Freiheit des Entscheids heisse, dass die Frau sowohl nein wie auch ja sagen könne zur Schwangerschaft, dass also gerade die Fristenregelung sie stärke gegen Druck von aussen.

Auf Fragen aus dem Publikum zum Recht auf Leben, betonten Frau Angst-Vonwiller und Pfr. Sahli, das Dilemma des Schwangerschaftskonfliktes lasse sich nicht auflösen. Man könne nicht beiden Werten, dem Wert des ungeborenen Lebens und dem Anspruch der Frau auf ein selbstbestimmtes Leben gerecht werden, man müsse sich für das eine oder das andere entscheiden. In dieser existenziellen Frage dürfe nicht eine Drittperson verfügen. Frau Dr. Acklin prangerte die Selbstgerechtigkeit gewisser Kreise an.

Der Entscheid der Frau für oder gegen eine Schwangerschaft sei zu respektieren, waren sich die GesprächsteilnehmerInnen einig. Ihren Schutzauftrag für das Leben müsse die Gesellschaft mit einer familienfreundlichen Politik erfüllen, nicht mit der Kriminalisierung von Frauen in einer Notlage.

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